Leseprobe Der Fluch des Erbes I

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Der Fluch des Erbes I

 

Kapitel 1      

Der Fluch des Erbes I Es war bereits siebzehn Uhr und noch immer war kein Mensch zu sehen.

Mercedes konnte nicht begreifen, was hier vor sich ging. Vor einer guten Stunde war sie bereits angekommen.

Das Taxi, welches sie vom Bahnhof aus hierher gebracht hatte, riss ein ziemlich großes Loch in ihre ohnehin schon spärliche Kasse und war von ihr nicht eingeplant.

In einem kurzen Telegramm hatte sie Madame Lerue ihre Ankunftszeit mitgeteilt und war davon ausgegangen, dass man sie am Bahnhof abholen würde. Doch nichts dergleichen war geschehen.

Da es recht kalt war und sie keine Lust hatte, sich auf dem zugigen Bahnhof eine Erkältung einzufangen, hatte sie sich schließlich in ein Taxi gesetzt und mit Erschrecken feststellen müssen, dass die Fahrt über eine Stunde dauerte.

Das unbehagliche Gefühl, das sie befiel, während der Taxifahrer nun durch das riesige schmiedeeiserne Tor fuhr, konnte sie einfach nicht abschütteln.

Sie bekam eine leichte Gänsehaut, als sich jetzt vor ihren Augen ein riesiger Park erstreckte, der von imposanten Bäumen beherrscht wurde, die schon sehr alt sein mussten.

Das Laub hatte man ziemlich achtlos zu großen Haufen zusammengekehrt, die der Wind aber unmittelbar wieder in alle Richtungen auseinander blies.

Das Gras stand sehr hoch und hätte dringend einmal gemäht werden müssen, dachte sie insgeheim.

Ganz bestimmt hatte die Gräfin doch einen Gärtner, wenn nicht sogar zwei, die sich um die Anlage kümmerten.

Die kleinen Kieselsteine, die den geschwungenen Weg bedeckten, über den sie fuhren, knirschten unter den Reifen und zwangen den Taxifahrer, Schritttempo zu halten. Und dann hatte Mercedes ihr Ziel erreicht.

Das imposante Anwesen war gigantisch, wirkte aber auch irgendwie unheimlich, als es jetzt vor ihr aufragte.

Das dreistöckige, aus alten, recht verwitterten Backsteinen gebaute Haus hatte schon bessere Zeiten gesehen. Die Fassade war von Efeu bewachsen und hatte auch vor den unzähligen kleinen und größeren Sprossenfenstern keinen Halt gemacht.

Nur die beiden kleinen Erker im ersten Stock wirkten, als hätte man hier mehr Sorgfalt walten lassen.

Die Flügeltüren standen weit offen und ließen die weißen langen Gardinen im Wind wehen.

Nirgendwo brannte Licht, obwohl es draußen ziemlich bewölkt war und der einsetzende Nieselregen im Inneren für zusätzliche Dämmerung sorgen musste.

Der Taxifahrer lenkte den Wagen jetzt in die kreisrunde Auffahrt, in deren Mitte ein Springbrunnen stand und hielt dann an. Nachdem er ihre Koffer ausgeladen und Mercedes ihn bezahlt hatte, wünschte er ihr noch alles Gute und fuhr dann sofort wieder los.

Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass er diesen Ort möglichst schnell wieder verlassen wollte.

Mühsam schleppte sie jetzt ihre beiden Koffer die breiten Eingangsstufen hinauf und blieb schließlich etwas atemlos vor dem beeindruckenden Eingangsportal stehen. Anders konnte man es nicht bezeichnen.

Die dunkle, dicke und sehr massive Eichentür wurde von einem grünen, sehr großen Löwenkopf dominiert, an dem ein Metallring angebracht war.

Vergeblich suchte Mercedes nach einem zusätzlichen Klingelknopf, konnte aber keinen finden.

Also griff sie kurz entschlossen nach dem Ring und klopfte damit gegen die Holztür. Doch nichts geschah.

Nachdem sie noch zwei weitere Male versucht hatte, auf sich aufmerksam zu machen, griff sie zielstrebig nach der schmiedeeisernen Klinke und drückte sie hinunter.

Überraschenderweise war die Tür nicht verschlossen.

 

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Vor knapp zwei Wochen wurde sie von Ihrer Freundin Valerie auf ein Zeitungsinserat aufmerksam gemacht.

Valerie wusste, wie todunglücklich Mercedes mit ihrem aktuellen Job war und wollte ihrer besten Freundin helfen.

Daraufhin durchforstete sie täglich die Stellenanzeigen.

»Gesellschafterin für eine ältere, senile Dame gesucht. Sie dürfen nicht älter als 26 Jahre sein, alleinstehend, müssen eine soziale Ausbildung absolviert haben und in Deutschland geboren sein. Bei ernsthaftem Interesse setzten Sie sich bitte sofort mit Madame Lerue in Verbindung. Sie wird Ihnen alles Weitere erläutern.«

Nur auf gutes Zureden ihrer Freundin hin hatte Mercedes schließlich die ausländische Telefonnummer gewählt, die unter der Annonce gestanden hatte.

Am anderen Ende vernahm sie die seriöse Stimme einer Frau, die sehr kurz angebunden klang. Sie teilte Mercedes in wenigen Worten mit, um was es ging.

Bei der älteren Frau aus der Anzeige handelte es sich um eine Gräfin mit Wohnsitz in Südfrankreich.

Sie war durch einen Unfall an den Rollstuhl gefesselt und suchte jetzt eine Gesellschafterin, die sich um ihre Belange kümmern und auch Unternehmungen mit ihr machen sollte. Anscheinend hatte sie keine näheren Angehörigen mehr.

Irgendwie hatte Mercedes Mitleid mit der älteren Dame und hatte sich auch gegen ihre anfänglichen Zweifel auf die Stelle hin beworben. Dann ging alles recht schnell.

Binnen einer Woche hatte sie ihre 1-Zimmer-Wohnung, in der sie seit der Trennung von ihrem Mann wohnte, aufgelöst. Die Möbel verkaufte sie kurzerhand, da sie nicht wusste, wem sie diese ansonsten hätte geben können. Familie hatte sie keine.

Viel hatte sie zwar nicht dafür bekommen, aber immerhin reichte es, um die nächsten Wochen gut über die Runden zu kommen. Da kam ihr die Stellenanzeige gerade recht.

Direkt nach ihrer Hochzeit hatte Simon darauf bestanden, dass sie aufhörte zu arbeiten.

Er verdiente als Anwalt mit eigener Kanzlei genug für sie beide und konnte es nicht ertragen, dass seine Frau über ein eigenes Einkommen verfügte und damit unabhängig von ihm war. Dies ließ sein Stolz nicht zu.

Mercedes schüttelte sich innerlich, als sie daran dachte, dass Simon sie bereits nach der dritten Ehe Woche betrogen hatte. Das hätte sie ihm niemals zugetraut.

Simon, der Mann, den sie über alles geliebt hatte. Wie hatte er ihr nur so etwas antun können?

Sie hatte ihn vergeblich zur Rede gestellt, aber er ließ sich auf kein diesbezügliches Gespräch mit ihr ein.

Das alles ergab für sie einfach keinen Sinn. Warum hatte er sie dann erst geheiratet?

Wenn sie heute näher über die Umstände ihrer Begegnung nachdachte, war alles sowieso recht merkwürdig gewesen.

 

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Sie hatten sich vor einem knappen Jahr auf einem Sommerfest des Behindertenpflegeheims kennengelernt, in dem Mercedes arbeitete.

Das Heim war in einem ehemaligen Schloss untergebracht, welches der Besitzer, ein Graf von Schwarzenfeld, behindertengerecht umbauen ließ und dann in ein privates Pflegeheim verwandelte.

Nur insgesamt zwanzig geistig und körperlich behinderte Menschen hatten hier ein neues Zuhause gefunden. Sie stammten aus wohlhabenden und hoch angesehenen Familien, deren Wohnsitz überwiegend im Ausland lag und die daher äußerst selten ihre hier untergebrachten Töchter und Söhne besuchten.

Mercedes hatte oft Mitleid mit den Jugendlichen, von denen keiner älter als zwanzig Jahre war. Abgeschoben von der Familie wohnten sie zwar in purem Luxus und einer traumhaft schönen Umgebung, aber sie konnte spüren, dass sie sich einsam fühlten.

Das Verhältnis der Bewohner untereinander war teilweise recht angespannt.

Man hatte die geistig behinderten Menschen in einem gesonderten Trakt untergebracht.

Graf von Schwarzenfeld legte Wert darauf, dass sie keinen Kontakt zu den körperlichen Behinderten pflegten.

Mercedes hatte sich von Anfang an darüber gewundert, wagte aber nicht, den Grafen darauf anzusprechen.

Er persönlich stellte das benötigte Personal ein und sorgte dafür, dass nur Spitzenkräfte hier tätig waren.

Sie war vor drei Monaten erst 25 Jahre alt geworden und verfügte daher nicht über eine sehr lange Berufserfahrung.

Doch das schien den Grafen nicht zu stören und so hatte er sie nach einem kurzen Einstellungsgespräch in seine Dienste genommen.

Die anderen Pflegekräfte waren wesentlich älter als sie und hießen diese Entscheidung des Grafen auch nicht für gut. Doch niemand äußerte sich dazu.

Lediglich ihr abweisendes Verhalten Mercedes gegenüber machte dieser klar, dass sie hier nicht unbedingt willkommen war.

Graf von Schwarzenfeld war seit zehn Jahren Witwer und hatte selbst eine geistig behinderte 15-jährige Tochter. Mercedes wurde eigens für Elisa eingestellt und das Mädchen war ihr von Anfang an ans Herz gewachsen. Das ließ auch die Abneigung der anderen Angestellten an ihr abprallen.

Wahrscheinlich waren sie nur eifersüchtig, dass sie eine privilegierte Stellung innehatte und sich bei gleicher Bezahlung nur um eine einzige Bewohnerin des Pflegeheims kümmern musste.

Elisa bewohnte eine großzügige Wohnung im ersten Stock und war ein überaus liebenswürdiges Mädchen.

Mercedes hatte ein kleines Appartement direkt nebenan bezogen, damit sie Tag und Nacht für die Tochter des Grafen da sein konnte.

Die Verbindungstür zwischen den beiden Wohneinheiten war nicht verschlossen. So hatte zwar jeder seine Privatsphäre, aber im Notfall war Mercedes sofort zur Stelle.

Das war die Bedingung, die der Graf gestellt hatte, um sie einzustellen.

Da Mercedes sowieso Single war und keine weiteren Verpflichtungen hatte, war das für sie kein Problem.

Sie war in einem Waisenhaus aufgewachsen. Ihre Eltern hatte sie nie kennengelernt. Nähere Verwandte hatte sie auch nicht, wie man ihr dort erzählte.

Da sie es nicht anders kannte, hatte es ihr auch nie viel ausgemacht, ganz allein auf der Welt zu stehen.

Nachdem sie drei Monate in dem Pflegeheim gearbeitet hatte, lernte sie schließlich Simon kennen.

Ein Traum von einem Mann für jede junge Frau. Er war der persönliche Anwalt des Grafen von Schwarzenfeld und kümmerte sich um dessen Belange.

Mercedes war von seiner charismatischen Art sofort hingerissen und verliebte sich sehr schnell in ihn.

Schon nach einem halben Jahr heirateten die beiden. Für Mercedes war es der schönste Tag in ihrem Leben, zumal die Hochzeit auch noch genau an ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag stattfand.

Dass Simon nicht zu der Sorte ›treuer Ehemann‹ gehörte, war ihr anfänglich überhaupt nicht bewusst. Doch recht bald stellte sich heraus, welcher Leidenschaft er nachging.

Simon kannte unzählige Frauen.

Immer öfter machte er Überstunden, bis Mercedes schließlich misstrauisch wurde.

Sie hatte schweren Herzens auf sein beständiges Drängen hin ihre Anstellung in dem privaten Pflegeheim gekündigt. Danach verbrachte sie ihre Zeit damit, das wunderschöne Haus, welches Simon noch kurz vor ihrer Hochzeit gekauft hatte, in Ordnung zu halten.

Ihre Tage verliefen in stetiger Routine und schon sehr bald quälte sie die Langeweile.

Schließlich begann sie Nachforschungen anzustellen, da Simon immer seltener zu Hause war. Das Ergebnis war mehr als niederschmetternd.

Sie hatte ihn mehrfach in Begleitung junger Frauen gesehen, während er ihr erzählt hatte, er müsse Überstunden machen.

Also verlor sie keine Zeit und stellte ihn sofort zur Rede.

Simon hingegen ließ Mercedes’ Einwände nicht gelten und beteuerte immer wieder seine Unschuld.

Nachdem sie ihn kurz darauf mit einer weiteren Frau in einer mehr als eindeutigen Situation erwischt hatte, überlegte sie nicht lange und zog einen Schlussstrich unter ihre Ehe.

Sie war gerade mal sechs Wochen verheiratet, als sie sich schließlich in einem kleinen Appartement am Rande von Frankfurt einmietete.

Bald darauf fand sie eine Anstellung als Gesellschafterin bei einer sehr herrschsüchtigen alten Dame, die sie ständig schikanierte.

Ihr Stolz ließ es jedoch nicht zu, sich erneut an den Grafen zu wenden. Das wäre ihr zu peinlich gewesen.

So lagen viele lange und schlaflose Nächte hinter ihr, bis ihre Freundin sie schließlich auf die Annonce aufmerksam machte.

Auch wenn Frankreich nicht gerade um die Ecke lag, war sie froh, nach nur zwei Arbeitswochen der alten Dame wieder entkommen zu können.

 

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Mit einer resoluten Handbewegung strich sie sich über die Stirn. Dieses Leben gehörte der Vergangenheit an.

Nun stand sie hier. Vor der stattlichen Villa der Gräfin und war dabei, ein neues Leben zu beginnen. Sie wollte den Schatten der Vergangenheit keinen Raum mehr geben und streckte entschlossen ihren Rücken durch.

Dann drückte sie die schwere Tür auf.

Auch wenn es ihre Erziehung nicht zuließ, sich einfach in einem fremden Haus Zutritt zu verschaffen, hatte sie keine Lust, noch länger in der Kälte zu stehen.

Die große Halle war dunkel, als sie eintrat. Die offene Tür ließ gerade genug trübes Tageslicht herein, um das spärliche Mobiliar zu erkennen.

Mercedes stellte ihre beiden Koffer direkt links neben der Haustür ab und trat dann näher.

»Hallo ist hier jemand?« Rief sie in die Dunkelheit hinein. Doch niemand antwortete ihr.

Unschlüssig, was sie nun tun sollte, sah sie sich kurz in der Halle um. Rechts und links an den Wänden hingen große Gemälde, auf denen Frauen und Männer zu sehen waren.

Genaueres konnte sie jedoch in dem diffusen Licht nicht ausmachen.

Neben jedem der beeindruckenden Gemälde waren kleine Wandlampen angebracht.

Ein großer Teppich lag auf dem Boden und füllte die gesamte Halle aus, an deren Ende sich eine große Tür befand, die offenstand.

Doch auch in diesem Raum brannte kein Licht.

Die drei Türen auf der linken Seite der Halle waren geschlossen.

Auf der rechten Seite führte eine geschwungene Holztreppe in das obere Stockwerk. Links neben der Treppe stand eine bequeme Sitzgarnitur.

Ein sehr großes dunkelblaues Sofa mit drei dazugehörigen Sesseln und einem kleinen Tisch. Kurz kam ihr der Gedanke, sich einfach dort hinzusetzen und zu warten, bis jemand kam.

Schließlich war Madame Lerue ja über ihre Ankunft informiert. Doch dann entschied sie sich dagegen.

Auch wenn sie die Kälte eher vor einem Spaziergang zurückschrecken ließ, wollte sie nicht in dieser Dunkelheit allein sein. Also ließ sie ihre Koffer einfach stehen und trat durch die Tür wieder ins Freie hinaus.

Es fing bereits an zu dämmern, als sie die Stufen hinabstieg und sich unschlüssig umsah.

Schließlich entschied sie sich, das Anwesen einmal von hinten anzusehen und wandte sich nach rechts.

Der kleine, mit weißen Kieselsteinen ausgelegte Weg, der sich direkt auf der rechten Seite der breiten Treppenstufen befand, lud sie förmlich ein.

Sofort peitschte ihr der kalte Wind unbarmherzig durch die langen roten Locken und schnell schlug Mercedes den Kragen ihres Mantels hoch.

Fröstelnd ging sie weiter und hatte nach wenigen Minuten die Rückseite des Anwesens erreicht. Vor ihr erstreckte sich ein mehrere Hektar großes Stück Land, das wie der Park zuvor mit dichtem Baumbewuchs bestückt war.

Auch hier türmte sich das Laub zu hohen Bergen, die der stetig zunehmende Wind durch die Luft wirbelte.

Dann schritt sie auf die breiten Rasenflächen zu und wurde sofort wie magnetisch von einem großen Felsbrocken angezogen, der sich in hundert Metern Entfernung befand.

Recht bald hatte sie den riesigen Stein erreicht und blieb verwundert davorstehen. Mittlerweile war es so dunkel, dass sie die Inschrift, die darauf eingraviert war, mit bloßem Auge nicht mehr entziffern konnte.

Der Stein überragte sie mit ihren 1,70 Meter noch um Haupteslänge und verwundert fragte sie sich, warum er wohl hier stand und was auf ihm eingemeißelt war. Hätte sie doch nur eine Taschenlampe dabeigehabt!

Jetzt hatte sie die Neugierde gepackt. Machte das Anwesen auf sie schon einen recht mysteriösen Eindruck, so verstärkte der große Felsbrocken diesen noch.

Auch hier erkannte sie die weißen Kieselsteine wieder, mit denen man einen Kreis um den Stein gezogen hatte.

Was das wohl zu bedeuten hatte? Fragte sie sich gerade, als sie einen Lichtschein hinter sich bemerkte.

Alarmiert drehte sie sich um und starrte zu einem der hell erleuchteten Fenster im zweiten Stock hinauf.

Also war dieses Stockwerk doch bewohnt, obwohl es von außen den Anschein erweckt hatte, dass dem nicht so war.

Sie konnte gerade noch erkennen, dass der Vorhang sich bewegte und eine Gestalt schnell zurücktrat. Dann wurde das Licht auch schon wieder gelöscht.

Somit befand sich jemand im Haus. Warum nur hatte man dann nicht auf ihr Klopfen reagiert? Oder war der oder diejenige gerade erst dort eingetroffen?

Einen Wagen jedoch hatte sie nicht gehört. Allerdings war der Wind mittlerweile so stark geworden, dass er auch jedes andere Geräusch förmlich verschluckte. Eilig drehte sie sich um und machte sich auf den Rückweg.

Sie hatte gerade wieder die breiten Stufen erklommen und stand vor der imposanten Haustür, als ein großer weinroter Wagen die breite Auffahrt hinaufgefahren kam.

Im Stillen hoffte sie, dass man ihr keine Schwierigkeiten machen würde, da sie so einfach das Haus betreten hatte. Aber die Tür war nun mal nicht abgeschlossen gewesen.

Irgendetwas würde ihr schon zu ihrer Verteidigung einfallen. Da war sie ganz sicher.

In diesem Moment wurde die Tür im Fond geöffnet.

Zuerst kamen nur ein paar lange Beine zum Vorschein, die in blauen Leinenhosen steckten. Dann folgte der Rest.

Ihr stockte der Atem bei dem, was sie jetzt sah.

 

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Mercedes war kein sehr ängstlicher Mensch. Schon in sehr jungen Jahren hatte sie notgedrungen gelernt, allein im Leben klarzukommen.

Eine freundliche Nonne, die ihr sehr zugetan war, hatte ihr unter vorgehaltener Hand erzählt, dass eine ihrer Schwestern sie eines Tages in einer kleinen Baby-Wiege gefunden hatte.

Mercedes war nur wenige Tage alt und schlief fest, als sie vor dem großen Tor, welches das Grundstück des Waisenhauses begrenzte, entdeckt wurde.

Die Babywäsche, mit der sie bekleidet war, wirkte sehr kostbar. Neben ihrem Kopfkissen fand die Nonne ein rundes Medaillon, das an einer Silberkette hing.

Direkt daneben lag nur ein kleiner Zettel, auf dem in einer geschwungenen Handschrift ›Mercedes‹ stand.

Es war Hochsommer und so wie es aussah, konnte die Wiege noch nicht sehr lange dort gestanden haben, als die Nonne sie vorsichtig mit hineinnahm.

Sofort informierte die Mutter Oberin die örtliche Polizei und die umliegenden Krankenhäuser.

Doch niemand hatte einen Säugling als vermisst gemeldet. Sie gab sogar eine Zeitungsannonce auf, die jedoch ebenfalls keine Resonanz brachte.

So wurde Mercedes schließlich kurzerhand ganz offiziell in dem Waisenhaus aufgenommen und verbrachte dann ihre ersten achtzehn Lebensjahre dort.

Sie besuchte das städtische Gymnasium und entschied sich schließlich für eine Ausbildung zur Erzieherin.

Bereits im Waisenhaus war sie der begehrte Mittelpunkt der kleineren Kinder, die ständig an ihrem Rockzipfel hingen. So wunderte sich auch niemand, dass sie Kindergärtnerin werden wollte.

Sie hatte Glück und bekam direkt nach dem Abitur eine Ausbildungsstelle.

Der Fußweg von dem kleinen Appartement bis zu ihrem neuen Arbeitgeber betrug gerade mal zehn Minuten.

Nach ihrem Auszug aus dem Waisenhaus war dies ihre erste eigene Wohnung, die sie sich mit ihrer Freundin Valerie teilte. Anschließend bot man ihr, nachdem sie ihre Abschlussprüfung erfolgreich bestanden hatte, einen Zweijahresvertrag an. Leider konnte dieser jedoch aus Rationalisierungsmaßnahmen nicht verlängert werden.

Sehr zum Leidwesen der Kindergartenleitung.

Mit hervorragenden Zeugnissen bewarb sich Mercedes in verschiedenen Einrichtungen, doch auch hier sah es nicht viel anders aus. Personal wurde eingespart.

So schlug sie sich die nächsten zwei Jahre mit verschiedenen Nebenjobs herum, bis ihr das Glück hold war und sie schließlich die Anstellung bei dem Grafen von Schwarzenfeld fand.

 

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Automatisch griff ihre Hand jetzt zu dem Medaillon, welches stets um ihren Hals hing, als Mercedes dem fremden Mann entgegensah, der gerade dabei war, die Treppenstufen zu ihr hinaufzusteigen.

Der durchtrainierte und muskulöse Unbekannte musste früher einmal sehr gut ausgesehen haben, bevor er diesen schrecklichen Unfall gehabt hatte.

Auf seiner rechten Gesichtshälfte zog sich eine lange Narbe von den Augenbrauen zu seinem markanten Kinn hinunter. Das rechte Bein zog er leicht nach.

Ein verbitterter und harter Zug lag um seinen sinnlichen Mund, der gewiss so manches Frauenherz hatte höherschlagen lassen. Doch damit war es jetzt wohl vorbei. Wie alt mochte er sein?

Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig. Sein leicht gelocktes dichtes Haar war dunkel, fast schwarz und reichte ihm bis auf die breiten Schultern hinab.

Sofort empfand Mercedes großes Mitleid mit dem Mann, dem das Schicksal in so jungen Jahren derart hart mitgespielt hatte.

Auf der anderen Seite löste er ein gewisses Unbehagen in ihr aus, als er jetzt so ganz abrupt stehen blieb und zu ihr hinaufschaute.

Sein Gesichtsausdruck wirkte vollkommen überrascht, um nicht zu sagen, fassungslos.

Augenblicklich wurden seine harten Züge weich.

Sie konnte in diesem Moment nicht ahnen, dass er glaubte, einen Geist zu sehen, als sie mit ihren vom Wind wallenden roten Locken dort oben stand und auf ihn hinuntersah.

Doch schnell schien er sich wieder gefasst zu haben und kam jetzt mit großen Schritten die Treppe hinauf.

»Ich nehme an, sie sind Mademoiselle Pancois, Mercedes Pancois«. Sprach er sie mit einer sehr dunklen Stimme an und musterte sie dabei ungeniert von Kopf bis Fuß.

Seiner nun wieder versteinerten Miene konnte sie nicht entnehmen, was er gerade dachte.

»Wie kommen sie in dieses Haus? Und wer hat sie überhaupt hereingelassen?« Setzte er sofort hinzu und sah sie dabei ziemlich ungehalten an.

Da sie noch immer vor der Haustür stand, musste er davon ausgegangen sein, dass sie gerade aus dem Haus getreten war. Mercedes schluckte hart.

Wer war dieser Mann und welche Rolle spielte er? Mit welchem Recht sprach er so mit ihr? Langsam wich ihr anfängliches Unbehagen unbändigem Zorn. Das musste sie sich nicht gefallen lassen. Schließlich hatte sie nichts Unrechtes getan.

Wie aus weiter Ferne hörte sie nun ihre eigene Stimme antworten. »Die Haustür war nicht abgeschlossen.

Ich habe mehrmals mit dem Türklopfer auf mich aufmerksam gemacht, aber niemand hat darauf reagiert. Da habe ich mir erlaubt, schon einmal meine Koffer hineinzutragen.

Es tut mir leid, wenn ich sie durch mein eigenmächtiges Verhalten verärgert habe.

Das war ganz sicher nicht meine Absicht. Auf der anderen Seite bin ich es nicht gewohnt, dass man mich über eine Stunde warten lässt, obwohl ich einen festen Termin hatte.

Aber keine Sorge, ihre goldenen Löffel habe ich auf jeden Fall nicht gestohlen«, konnte sie nicht verhindern, hinzuzusetzen.

Sie sah, wie sich die Narbe des Mannes noch um einige Nuancen verdunkelte, gleichzeitig jedoch ein kurzes Grinsen über sein Gesicht huschte, das er aber schnell zu verbergen versuchte.

Sofort hatte er sich wieder gefangen und setzte die gleiche harte Miene auf.

War sie jetzt zu weit gegangen? Und wenn schon. Das geschah ihm nur recht. Schließlich war er derjenige, der sie auf diese überaus unfreundliche Art begrüßt hatte.

»Mademoiselle Pancois«, sprach er sie jetzt wieder an und konnte dabei seinen Unmut nur mühsam unterdrücken.

»Sie scheinen sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass es einer Angestellten nicht zusteht, in solch einem Ton mit ihrem Vorgesetzten zu sprechen.

Ich weiß nicht, welche Art von Bildung sie genossen haben, aber anscheinend war es wohl nicht die beste.«

Bei diesen Worten ließ er sie einfach stehen und näherte sich der Haustür, die wie von Geisterhand sofort geöffnet wurde.

Vor ihr stand ein älterer Butler in einer für diesen Beruf typischen Uniform und begrüßte diesen unausstehlichen Mann mit unübersehbarer Ehrerbietung.

Mercedes stand immer noch wie angewurzelt da.

Eine sanfte Röte überzog mittlerweile ihr ganzes Gesicht. Sie war unsagbar wütend. Was bildete sich dieser Mensch eigentlich ein?

Er behandelte sie wie ein dummes Schulmädchen.

Dann wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie gar nicht allein gewesen war.

Was war mit dem Butler los? Warum hatte er nicht auf ihr Klopfen reagiert?

Ein leichtes Frösteln überzog ihren Körper.

Hier stimmte etwas nicht. Sie hatte auf einmal ein ganz merkwürdiges Gefühl, das sie nicht einordnen konnte.

Dann schüttelte sie entschieden den Kopf.

So schnell gebe ich nicht auf, sagte sie sich und stolzierte hocherhobenen Hauptes in die Halle des düsteren Anwesens hinein.

 

 

Kapitel 2

Der Fluch des Erbes I Ihre Koffer, die sie in der Halle zurückgelassen hatte, waren verschwunden. Genau wie der Butler und der unfreundliche Mann auch.

Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und entschied sich dann für die große Tür am Ende des Raumes. Das Haus war derart groß, dass sie sich bestimmt darin verlaufen würde.

Bevor sie die Türklinke herunterdrücken konnte, vernahm sie eine leise Stimme aus dem Inneren des Zimmers und bemerkte im selben Moment, dass die Tür nur angelehnt war.

Anscheinend war jemand am Telefonieren. Normalerweise hielt Mercedes nichts vom Lauschen an fremden Türen. Doch dies hier war etwas anderes.

Irgendetwas beunruhigte sie zutiefst und ließ sie fast gegen ihren Willen horchen.

Vorsichtig drückte sie ihr Ohr näher an das dunkle Holz heran, um besser hören zu können. Es handelte sich unverkennbar um die dunkle Stimme des unfreundlichen Mannes, den sie gerade kennengelernt hatte. »Ja, sie ist hier«, sagte er gerade. »Nein, sie weiß gar nichts. Scheint mir ein sehr naives, aber auch etwas widerspenstiges junges Ding zu sein.«

Etwas verwundert runzelte Mercedes ihre Stirn, als sie im oberen Stockwerk eine Tür ins Schloss fallen hörte.

Ertappt fuhr sie herum und ging eiligen Schrittes auf die kleine Sitzgarnitur zu. Sie hatte sich gerade in einen der blau gepolsterten Sessel gesetzt, als der Butler auch schon die Treppe hinunterkam und vor ihr stehen blieb.

»Wenn sie mir bitte folgen wollen, Mademoiselle. Ich zeige ihnen jetzt ihr Zimmer«, sagte er und drehte sich ohne eine Antwort von ihr abzuwarten sofort wieder um.

Mercedes erhob sich schwerfällig aus dem Sessel und folgte dem merkwürdigen Mann dann die Treppe hinauf.

Das Obergeschoss bildete einen langen Gang, von dem insgesamt zehn Zimmer abgingen.

Vor dem letzten Zimmer auf der linken Seite blieb der Butler schließlich stehen und öffnete die Tür. Mit einer beiläufigen Handbewegung wies er in das Innere und trat zur Seite.

»Um 19 Uhr gibt es Abendessen. Bis dahin können sie noch auspacken und sich etwas ausruhen. Um Pünktlichkeit wird gebeten. Monsieur le Coer schätzt Verspätungen gar nicht.«

Bei diesen Worten schloss er wieder die Tür hinter sich und verschwand.

Mercedes schnaubte ärgerlich. Wer von ihnen beiden hatte sich denn verspätet? Fragte sie sich genervt und sah sich dann beeindruckt um.

Das Zimmer war erstaunlich groß und mit weinrotem, dickem Teppichboden ausgestattet.

Die Farbe wiederholte sich auf dem Überwurf des großen Kingsize Bettes, das auf der rechten Seite des Zimmers stand und den dicken Samtvorhängen, die jetzt zurückgezogen waren und eine doppelflügelige Balkontür erkennen ließen. An der linken Zimmerwand befand sich eine große weiße Schminkkommode mit einem dazu passenden und ebenfalls mit weinrotem Samt bezogenem Hocker. Sie wurde von zwei großen weißen Schubladenkommoden eingerahmt, die bestimmt einen Meter fünfzig hoch waren.

Rechts neben der Eingangstür stand ein antiker Sekretär mit einem dazu passenden verschnörkelten Holzstuhl. Das dicke Brokatkissen, welches auf dessen Sitzfläche lag, war ebenfalls in der Farbe weinrot gehalten. Direkt daneben gab es eine weitere Tür, die Mercedes jetzt öffnete.

Sie fand sich in einem begehbaren Kleiderschrank wieder, dessen hintere Wand aus einer weiteren Tür bestand. Wie sie bereits erwartet hatte, war hier das Badezimmer.

Eine überdimensional große Wanne dominierte den mit glänzenden Terrakotta Fliesen ausgestatteten Raum. Die Wasserhähne der beiden vorhandenen Waschbecken und der Badewanne waren vergoldet und wiederholten sich in der angrenzenden Duschkabine.

Dicke flauschige und beigefarbene Badevorleger rundeten das Erscheinungsbild ab.

Hier hatte man wirklich keine Kosten gescheut. Ganz im Gegensatz zu der etwas verwahrlost aussehenden Fassade des Hauses.

Mit einem leichten Kopfschütteln drehte sie sich wieder um und wollte gerade in das Schlafzimmer zurückgehen, als ihr auffiel, dass auf der linken Seite des Schranks einige lange Kleider hingen. Neugierig geworden trat sie näher und befühlte die sehr kostbar wirkenden Stoffe.

Es musste sich um Brokat handeln, der mit unzähligen Perlen und Rüschen verziert war. Wahre Kostbarkeiten.

Einige der Kleider waren aus dickem Samt gefertigt und sahen nicht weniger edel aus. Sie fragte sich, wofür jemand so viele Abendkleider brauchte.

Zudem erinnerte sie der Schnitt der Kleider an längst vergangene Epochen. Ob sie wohl für einen Kostümball gedacht waren?

So etwas trug man doch heute zu keinem gesellschaftlichen Anlass mehr. Direkt neben den Kleidern hingen zwei dicke Samt Capes mit Kapuzen.

Auch diese waren von ganz erlesener Qualität. Jetzt entdeckte sie auch mehrere Mieder und Unterkleider mit Strümpfen und passenden Haarbändern, Hüten und Handschuhen.

Das wurde ja immer interessanter.

Hier hatte man sich wirklich bis ins Detail Gedanken gemacht. Die passenden Schuhe, die sie kurz darauf auf dem Boden unter den Kleidern entdeckte, rundeten die Outfits ab.

Sie fragte sich sofort, wer diese Kostbarkeiten wohl einmal getragen hatte. Es musste sich um einen ganz besonderen Kostümball gehandelt haben.

Vielleicht hatte er auch hier in diesem schlossähnlichen Haus stattgefunden.

Ihre Koffer standen neben dem Frisiertisch, wie sie jetzt bemerkte, als sie zurück ins Schlafzimmer ging, nachdem sie sich endlich von dem Anblick der atemberaubenden Kleider hatte losreißen können. Bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass die linke Schnalle von einem der Koffer herunterhing.

Hatte sich etwa jemand während ihrer Abwesenheit daran zu schaffen gemacht?

Wie in Trance ging Mercedes auf die Gepäckstücke zu und öffnete den ersten. Ihr fiel nichts Besonderes daran auf und so wie es nach einem kurzen Blick aussah, fehlte auch nichts.

Hatte sie sich etwa geirrt und selbst vergessen, die Schnalle zu schließen? In der Hektik vor ihrer Abreise hätte dies möglich sein können. Nachdem sie auch den zweiten Koffer geöffnet und sich davon überzeugt hatte, dass noch alles an seinem Platz war, atmete sie erleichtert auf.

Ihre Nerven waren überreizt, das war es, sagte sie sich und fing dann an auszupacken und ihre Kleidung in den begehbaren Kleiderschrank zu räumen.

Die wenigen Teile wirkten vollkommen verloren hier drin und sie kam sich ein wenig wie Aschenputtel vor.

Nachdem sie auch ihre Badeutensilien und die leeren Koffer verstaut hatte, schloss sie die Tür hinter sich und nahm erneut einen süßlichen Geruch wahr, der ihr schon beim ersten Betreten des Raumes aufgefallen war.

Es musste sich um ein sehr kostbares Damenparfüm handeln, dessen Marke sie allerdings nicht ausmachen konnte.

Ihre Freundin Valerie hätte ihr jetzt sofort sagen können, um welchen Duft es sich handelte. Sie liebte Parfüms und hatte eine beträchtliche Sammlung davon in ihrem extra dafür angeschafften Badezimmerschrank.

Wie lange hielt sich ein Duft in einem Raum? Fragte sie sich. Hatte etwa erst vor Kurzem jemand diese Räume bewohnt? Und wenn ja, wo war dieser jemand jetzt? Sie würde ihren neuen Arbeitgeber direkt beim Abendessen danach fragen, nahm sie sich vor.

Nach einem Blick auf ihre Uhr stellte sie fest, dass sie noch eine Stunde Zeit hatte, bevor das Abendessen serviert wurde. Ein ausgiebiges Bad, das war es, was sie jetzt brauchte.

Nach der anstrengenden Reise war es eine Wohltat, das warme Wasser auf der Haut zu spüren.

Erst jetzt merkte sie, wie müde sie war und legte sich, nachdem sie sich abgetrocknet hatte, nur mit ihrem dünnen Satin Bademantel bekleidet, auf das einladende Bett.

Sie bekam nicht mehr mit, dass sie sofort einschlief und darüber die Zeit vergaß.

 

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Ein lautes Klopfen an der Tür riss sie aus ihrem Schlaf. Nach einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass es bereits 20:30 Uhr war. Oh Gott, sie hatte verschlafen.

Jetzt bekam sie wahrscheinlich den nächsten Rüffel von Monsieur le Coer. Der Butler hatte sie ja bereits gewarnt.

»Moment bitte, ich komme sofort«, sagte sie und zog den Bademantel zurecht, bevor sie die Tür öffnete.

Vor ihr stand ein junges blondes Mädchen und machte einen artigen Knicks.

»Guten Abend, Mademoiselle. Ich bin Limone, die Tochter des Stallmeisters. Ich arbeite hier im Haus als Zimmermädchen«, stellte sie sich vor.

Mercedes erwiderte die freundlich dargebotene Hand, wie ihr schien und bat sie, einzutreten.

»Es tut mir schrecklich leid. Ich scheine wohl verschlafen zu haben«, sagte sie zu dem Mädchen. »Hat Monsieur le Coer sie geschickt, um mich zu holen?«

Die großen Augen des Mädchens verdunkelten sich bei der Erwähnung dieses Namens.

»Nein, Mademoiselle. Ich sah Euch heute Nachmittag ankommen und da Ihr nicht beim Abendessen erschienen seid, wollte ich nur mal nach Euch sehen.«

Dann war sie es wohl, deren Schatten Mercedes kurz hinter dem Fenster gesehen hatte, als sie vor dem großen Felsbrocken gestanden hatte.

»Das ist wirklich sehr freundlich von ihnen, aber es ist alles in Ordnung«, beeilte sich Mercedes zu sagen.

»Ich war wohl durch die lange Reise so übermüdet, ohne es bemerkt zu haben. Ich hoffe nur, dass Monsieur le Coer nicht allzu böse mit mir ist. Glauben sie, dass ich ihn heute noch sprechen kann?«

Da war wieder der ängstliche Ausdruck in den Augen des jungen Mädchens.

»Oh, der Comte ist soeben weggefahren. Ich nehme an, vor Mitternacht ist er nicht zurück. Das ist jedenfalls meistens so. Und bitte nennt mich nur Limone.

Das tut jeder hier. Der Comte mag es gar nicht, wenn die Dienstboten gesiezt werden.«

Mercedes sah das Mädchen überrascht an, nickte dann aber und schenkte ihr ein Lächeln.

»Natürlich Limone. Wir wollen den Comte ja nicht unnötig verärgern. Sag mal, wo ist eigentlich die Gräfin Mutter le Coer?«

Das Mädchen schaute sie verständnislos an.

»Die Gräfin le Coer lebt seit einem halben Jahr in einem Pflegeheim. Sie hatte einen schweren Autounfall.

Seitdem ist der junge Comte nicht mehr zu ertragen. Er hat damals den Unfallwagen gefahren und ist durch diesen Unglücksfall auch mehr oder weniger behindert.

Das war alles ganz tragisch. Ich war zu der Zeit zwar noch nicht hier, aber mein Vater hat mir die Geschichte erzählt.

Der Comte liebt seine Mutter über alles und er hat es nie verwinden können, dass er eine Mitschuld an ihrem Unfall trägt, obwohl ihn eigentlich keine Schuld trifft.

Die Bremsen haben wohl versagt, wie sich später herausstellte. Zu dieser Zeit ist auch seine Verlobung mit der Industriellentochter Gabrielle Martinez in die Brüche gegangen.

Sie konnte sich wohl mit seinem Äußeren nicht abfinden. Aber wieso fragt Ihr mich nach der alten Gräfin? Kennt Ihr sie etwa?«

Bei dieser Frage meinte Mercedes einen leicht listigen Ausdruck in den Augen des Mädchens zu erkennen.

Aber das war gewiss nur Einbildung, tat sie dies sofort vor sich selbst ab.

Trotzdem wich ihr augenblicklich jeglicher Tropfen Blut aus dem Gesicht.

Wenn die Gräfin in einem Pflegeheim wohnte, für wen wurde sie dann eingestellt?

Und vor allem, warum?

Langsam überkam sie ein Gefühl der Angst.

Was wurde hier gespielt? Erst der merkwürdige Anruf, bei dem sie mehr oder weniger zufällig gelauscht hatte und nun die Geschichte über die Gräfin.

Sie beschloss, der jungen Limone erst einmal nichts von diesen Vorfällen zu erzählen.

Sie wollte sie nicht beunruhigen. Anscheinend wusste sie nichts von alledem, und das war wohl auch besser so.

»Nein, ich kenne die Mutter Gräfin nicht. Es war nur reines Interesse«, sagte sie schließlich und versuchte ein neutrales Gesicht dabei zu machen.

»Hab nochmals vielen Dank für deine Fürsorge. Mir geht es wirklich gut. Ich glaube, ich gehe jetzt lieber wieder zu Bett. Ich bin schrecklich müde. Wir sehen uns bestimmt morgen beim Frühstück.«

»Gute Nacht, Mademoiselle«, sagte Limone und drehte sich dann zur Tür. »Schlaft gut.« Dann war sie verschwunden.

Mercedes schloss die Tür hinter ihr und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Die Gedanken schwirrten ihr im Kopf herum. Sie konnte sie nicht ordnen.

Wahrscheinlich war alles ganz einfach, wenn man es bei klarem Kopf und Tageslicht betrachtete.

Sie war einfach nur überspannt. Bestimmt gab es eine logische Erklärung.

Entschlossen drehte sie den Schlüssel im Schloss herum und ging zurück ins Bett.

Mit dem Gedanken an die letzten Worte von Limone fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

 

Der Fluch des Erbes I  ﬗ  Der Fluch des Erbes I

 

Am nächsten Morgen wurde Mercedes durch aufgeregtes Vogelgezwitscher geweckt. Sie sah, dass die Sonne gerade dabei war aufzugehen, als sie durch die Balkontüren blickte.

Sie hatte vergessen, die Gardinen zuzuziehen. Dies schien ein wirklich schöner Tag zu werden.

Die quälenden Gedanken von gestern Abend versuchte sie durch frohe Laune zu verscheuchen.

Nachdem sie ausgiebig geduscht hatte, schlüpfte sie in ihre Jeans, ein passendes T-Shirt und zog sich einen Strickpullover darüber. Für Ende Oktober waren die Temperaturen schon recht frisch, vor allem wenn es auf den Abend zuging.

Sie wusste zwar nicht, welche Kleidung man hier von ihr erwartete, hoffte aber, dass sie keine Röcke tragen musste und ihre bevorzugten Jeans den Grafen nicht störten.

Aber das würde ihr der Comte sicherlich noch früh genug zu verstehen geben.

Dann schloss sie ihre Zimmertür und stieg die Treppe in die große Halle hinab. Die Tür, die sich direkt gegenüber dem Treppenaufgang befand, war geöffnet. Zögernd trat Mercedes näher.

Es war gerade erst 7 Uhr, aber anscheinend hatte schon jemand gefrühstückt. Der lange Holztisch war gedeckt und sie bemerkte, dass das Geschirr an der Kopfseite des Tisches benutzt worden war.

Jetzt hörte sie hinter sich ein leichtes Räuspern und zuckte zusammen. Als sie sich umdrehte, sah sie den Butler. Sie hatte ihn nicht kommen gehört.

»Guten Morgen, Mademoiselle Pancois. Monsieur le Coer bat mich, ihnen auszurichten, sich ab 9 Uhr bereitzuhalten. Er wird sie hier abholen und sie dann mit ihrer neuen Aufgabe vertraut machen. Aber bitte seien sie pünktlich. Ich sagte ihnen ja bereits, dass der Comte Verspätungen hasst.«

Mit diesen Worten drehte er sich einfach um und verschwand. Ihr Fernbleiben vom gestrigen Abendessen erwähnte er nicht.

Wenig später kehrte er mit frischem Kaffee und Brötchen zurück, die er auf dem Tisch abstellte. Erst jetzt merkte Mercedes, wie hungrig sie war und griff beherzt zu. Sie hatte sich an den Platz gesetzt, an dem ein zweites Gedeck aufgelegt worden war.

Nachdem sie fertig gefrühstückt hatte, entschied sie sich dazu, noch einmal den Garten aufzusuchen.

Sie hatte noch eineinhalb Stunden Zeit, bis der Comte sie abholen würde.

Der große Stein, den sie gestern dort entdeckt hatte, ließ ihr einfach keine Ruhe. Sie wollte unbedingt wissen, was darauf eingraviert war.

Schnell lief sie zurück in ihr Zimmer und schnappte sich eine Strickjacke, die sie überzog. Minuten später hatte sie die schwere Haustür hinter sich zugezogen und nahm denselben Weg, den sie gestern entdeckt hatte.

Das Gras war vom Tau noch ganz nass. Es ragte bis zu ihren Knöcheln hinauf und schnell war ihre Jeans in Mitleidenschaft gezogen.

Sie würde sich noch einmal umziehen müssen schoss es ihr kurz durch den Kopf, bevor sie auch schon vor dem imposanten Felsbrocken stand. Neugierig trat sie durch den Kreis aus weißen Kieselsteinen und stellte sich direkt vor den großen Stein. Die Inschrift musste schon sehr alt sein. Sie war reichlich verwittert.

›Nicht alles ist so, wie es scheint. Erkenne die Zeichen und mach dich auf den Weg Merc….‹ Stand dort geschrieben.

Bei dem letzten Wort hatte sie den Eindruck, dass es nicht vollständig war.

Man hatte versucht, es aus dem Stein zu entfernen, war dabei aber sehr ungeschickt vorgegangen.

Stirnrunzelnd stand sie davor und wollte gerade die Hand über die Inschrift gleiten lassen, als ihr jemand von hinten auf die Schulter fasste.

Mercedes stieß einen kleinen Schrei aus und drehte sich um. Vor ihr stand der Comte.

Hätte sie ihn jetzt zum ersten Mal gesehen, wäre sie wahrscheinlich schreiend vor ihm davongelaufen.

Schnell hatte sie sich wieder gefasst und atmete einmal tief durch, bevor sie sprach. »Oh, Monsieur le Coer. Ich habe sie gar nicht kommen gehört. Bitte entschuldigen sie, dass ich mich so erschreckt habe. Ich war ganz in Gedanken.«

Einen kurzen Moment lang meinte sie ein kleines Lächeln über sein Gesicht huschen zu sehen.

Doch so schnell, wie es gekommen war, verschwand es auch wieder.

»Es tut mir auch leid, Mademoiselle Pancois. Ich wollte sie ganz gewiss nicht erschrecken. Ich bin schon etwas früher zurückgekommen und Johann mein Butler, sagte mir, dass sie im Garten seien. Wie ich sehe, hat es ihnen der große Felsbrocken angetan.«

Mercedes war überrascht, wie freundlich er auf einmal zu sein schien. Das war ja ein ganz neuer Wesenszug an ihm. Jedoch kannte sie ihn auch erst seit gestern und vielleicht hatte sie ihm einfach unrecht getan. Es konnte ja jeder einmal einen schlechten Tag haben.

»Ja, ich finde diesen Stein faszinierend«, beeilte sie sich zu sagen. »Er ist mir gestern Abend schon aufgefallen. Doch leider war es bereits zu dunkel, um die Inschrift entziffern zu können. Nur aus diesem Grund bin ich heute noch einmal hierhergekommen. Nennen sie es die Neugierde einer Frau.«

War der Comte überrascht, so zeigte er es zumindest nicht, als er jetzt mit dem Kopf nickte.

»Das ist er in der Tat. Er steht hier schon seit Ewigkeiten. Und niemand weiß, wer ihn letztlich aufgestellt hat.  Da er zu diesem Anwesen gehört, habe ich es auch dabei belassen. Zumal meine Mutter ebenfalls von ihm fasziniert ist. Sie hätte es niemals zugelassen, dass er entfernt wird.«

Etwas nachdenklich rieb er sich jetzt mit der rechten Hand über sein energisches Kinn.

»Was halten sie von der Inschrift?« Fragte er dann und sah sie dabei aufmerksam an.

Mercedes schüttelte leicht den Kopf.

»Es ist etwas verwirrend, würde ich sagen. Für mich hört es sich nach einer Botschaft an. Aber ich kann mich natürlich auch irren«, setzte sie schnell hinzu, da sie sich bei diesen Worten etwas albern vorkam.

Der Comte nickte bedächtig.

»Das hat meine Mutter auch immer gesagt. Sie liebt alles Mystische und wittert schnell ein Geheimnis.«

Als hätte er bereits zu viel gesagt, straffte er die Schultern und drehte sich dann um.

»Wenn es ihnen nichts ausmacht, können wir direkt losfahren. Dann sind wir pünktlich zum Essen zurück.«

Bei diesen Worten marschierte er auch schon los und Mercedes folgte ihm zögerlich.

 

Der Fluch des Erbes I  ﬗ  Der Fluch des Erbes I

 

Vor dem Brunnen parkte die gleiche weinrote Limousine, mit der er gestern angekommen war.

Sofort öffnete er ihr die Beifahrertür, ging dann um den großen Wagen herum und setzte sich hinter das Steuer.

Mercedes glitt mühelos in die weichen Polster des Bentleys und schnallte sich an.

Während der Fahrt sprachen sie nicht miteinander.

Der Comte konzentrierte sich ausschließlich auf die Straße, während Mercedes staunend die vorbeiziehende Landschaft bewunderte. Es war hier so ganz anders als in dem meist kühlen Deutschland. Sie kamen an unzähligen Weinbergen vorbei und Mercedes freute sich insgeheim schon jetzt auf den nächsten Sommer.

Die fremde Landschaft war einfach atemberaubend. Sie konnte sich gar nicht daran sattsehen.

Nach zwei Stunden hatten sie ihr Ziel erreicht.

Der Comte fuhr jetzt eine breite Auffahrt hinauf, die zu einem zweistöckigen weißen Gebäude führte. Es ähnelte einem Krankenhaus oder auch einem Pflegeheim, was es ja wohl auch zu sein schien, konnte sie den Worten von Limone Glauben schenken.

Eingebettet in satte grüne Hügel lag es vollkommen abgeschnitten von der Zivilisation vor ihnen.

Monsieur le Coer parkte den großen Wagen in einer dafür vorgesehenen Parkbucht und stellte dann den Motor ab.

Mit großen Schritten umrundete er den Wagen, um ihr die Beifahrertür zu öffnen, nahm sie dann am Ellenbogen und führte sie auf den verglasten Eingang zu.

Mercedes konnte gerade noch einen kurzen Blick auf die Umgebung werfen, bevor sie sich auch schon im Inneren des Gebäudes wiederfand.

Das überaus freundlich wirkende Haus stand in einem regelrechten Park, in dem sich unendliche viele alte Bäume, Sträucher und Blumenbeete befanden.

Antike, bunt gestrichene Holzbänke luden zum Verweilen ein. Im Sommer muss es hier traumhaft schön sein, dachte sie bei sich, als sie bald darauf vor einem Hochglanz lackierten weißen Tresen standen, der sich gegenüber der Eingangstür befand. An den seitlichen Wänden sah sie rote Ledersitzgruppen, die von künstlichen Palmen flankiert wurden.

Der Fußboden war mit einem dicken gemusterten und dunkelgrauen Teppichboden ausgelegt, der jedes Geräusch verschluckte.

Die Eingangshalle war komplett verglast und ließ den riesigen beeindruckenden Kronleuchter, der an der Decke hing, im hereinfallenden Sonnenlicht erstrahlen.

Aus den beiden Vitrinen, die sich direkt rechts und links neben dem imposanten Tresen befanden, funkelte und glitzerte es.

Mercedes konnte unzählige bunte Kristalle und Edelsteine darin entdecken.

Verwundert blickte sie jetzt die ältere Dame an, die gerade hinter dem Tresen hervorkam und dem Comte freundschaftlich die Hand schüttelte.

Ihr streng nach hinten gekämmtes Haar, das sie zu einem Dutt trug, ließ sie recht unnahbar erscheinen.

»Guten Tag, Michel«, sagte sie und nickte Mercedes dabei nur kurz zu.

»Guten Tag, Denise«, erwiderte der Comte und deutete dann auf Mercedes. »Dies ist Mademoiselle Pancois. Sie wird sich ab heute um meine Mutter kümmern. Ich hoffe, es geht ihr soweit gut, dass wir sie direkt mitnehmen können.«

Dann wandte er sich zu Mercedes um und wies mit der Hand auf die fremde Frau, die er Denise genannt hatte. »Darf ich vorstellen? Dies ist Madame Lerue, mit der sie ja bereits telefoniert haben. Sie war so nett, sich um die Stellenanzeige zu kümmern. Sie kennt meine Mutter sehr gut und kann daher am besten beurteilen, wer eine gute Gesellschafterin für sie abgibt. Mir fehlte leider die benötigte Zeit dazu.«

Das ist also die ominöse Dame, dachte sich Mercedes.

Kein Wunder, dass sie nicht auf dem Anwesen war. Sie war gar keine Angestellte der Familie le Coer. So wie es aussah, leitete sie dieses Pflegeheim. Aber zumindest hätte ich erwarten können, dass sie dem Grafen meine genaue Ankunftszeit mitteilt, dachte sie etwas verärgert. Dann gab sie sich jedoch einen Ruck und reichte der älteren Dame ihre Hand, die diese sofort ergriff.

»Freut mich sehr, sie kennenzulernen.«

»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Mademoiselle Pancois«, erwiderte Denise jetzt überaus freundlich und wandte sich dann wieder dem Grafen zu.

In diesem Moment hatte sich der Comte aber bereits noch einmal zu Mercedes umgedreht.

»Madame Lerue trifft keinerlei Schuld«, sagte er jetzt zu ihr. »Selbstverständlich hat sie mir ihre genaue Ankunftszeit mitgeteilt und ich wollte sie auch direkt am Bahnhof abholen. Doch leider haben mich dringende Geschäfte aufgehalten, die sich nicht verschieben ließen. Bitte entschuldigen sie.«

Was war das denn jetzt gerade? Dachte sich Mercedes. Hatte dieser Mann etwa ihre Gedanken gelesen?

Das gab es doch nicht. Sofort merkte sie, wie eine leichte Röte sich ihre Wangen hinaufzog. Ganz so, als wäre sie bei irgendetwas Verbotenem ertappt worden.

»Schon gut«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich habe den Weg auch so gefunden.«

»Dann wäre das geklärt«, sagte der Graf jetzt und wandte sich dann wieder Madame Lerue zu.

»Deiner Mutter geht es ganz ausgezeichnet, Michel«, sagte diese sofort. »Sie hat sich bestens von ihrem kleinen Sturz erholt und freut sich schon unbändig darauf, endlich wieder nach Hause zu kommen. Du kennst sie ja. Sie langweilt sich hier. Die Leute sind ihr einfach alle zu alt.«

Bei diesen Worten gab sie ein glucksendes Lachen von sich und sah von einem zum anderen.

Also habe ich mich doch nicht verhört, dachte sich Mercedes sofort. Er hatte von seiner Mutter gesprochen.

Das bedeutete, dass die Gräfin Mutter wieder nach Hause kommen würde. Aber was um alles in der Welt hatte Limone dann gemeint, als sie ihr erzählte, dass die Gräfin in dem Pflegeheim bleiben würde?

Auch auf dem Gesicht des Comte breitete sich jetzt ein kleines Lächeln aus.

»Sie müssen wissen, dass meine Mutter aufgrund eines schlimmen Autounfalls an den Rollstuhl gefesselt ist.

Und in ihrem Übermut ist sie mit diesem Gerät vor ein paar Tagen bei einem Wendemanöver umgekippt und hat sich dabei das Handgelenk verstaucht.«

Bei diesen Worten hatte er sich erneut an Mercedes gewandt. »Sie ist im Grunde genommen total hilflos. Und da ich die meiste Zeit über verreist bin, suche ich eine freundliche Gesellschafterin für sie, die sich während meiner Abwesenheit um sie kümmert.

Es haben sich bereits mehrere junge Damen für diese Stelle beworben, doch leider war bisher noch nicht die passende Person dabei.«

Das erklärte auch den Geruch des fremden Parfüms in ihrem Zimmer, sagte sich Mercedes, als sie den beiden jetzt vollkommen verwirrt folgte. Oder hatte bis vor Kurzem noch seine ehemalige Verlobte dort gewohnt?

»Meiner Mutter fällt es durch besagten Unfall recht schwer, ein eigenständiges und unabhängiges Leben zu führen«, sprach der Comte unterdessen weiter.

»Sie hat seit diesem Unglück unter Madame Lerues Obhut gestanden. Doch meine Mutter sehnt sich natürlich wieder zurück nach Hause. Was man ihr ja nicht verdenken kann.

Madame Lerue hingegen hat Familie und ist zudem hier unabkömmlich.«

Der gläserne Fahrstuhl, den sie zwischenzeitlich betreten hatten, war im zweiten Stock angekommen.

Der lange Flur, der jetzt vor ihnen lag, war in einem zarten rosarot gestrichen und ebenfalls mit einem dicken grauen Teppichboden ausgestattet.

An den Wänden hingen Lämpchen mit dunkelroten Schirmen und verschiedene Kunstdrucke, die französische Landschaften abbildeten.

Die bis auf den Boden reichenden extrem breiten

Fenster tauchten den Gang in ein helles Licht und vermittelten sofort Wohlbehagen.

Lediglich drei Zimmer gingen von dem Flur ab, von denen die ältere Dame jetzt das mittlere ansteuerte.

Auf ihr lautes Klopfen hin vernahmen sie sofort eine resolute Stimme, die sie hereinbat.

Madame Lerue nickte ihnen nochmals zu und machte sich dann wieder auf den Rückweg.

Die Gräfin Mutter saß in einem modernen Rollstuhl, der dem breiten Fenster mit Blick in den Garten zugewandt war.

Als die beiden den Raum betraten, drehte sie ihren Stuhl sofort in deren Richtung.

Ein glückliches Lächeln überzog ihr faltenreiches Gesicht, als sie ihren Sohn erblickte. Das graue Haar trug sie in einer modischen Kurzhaarfrisur.

Über ihren Knien lag eine grün-karierte Wolldecke. »Michel«, sagte sie hocherfreut und breitete sofort ihre recht dünnen Arme nach ihm aus.

Der Comte ging mit schnellen Schritten auf seine Mutter zu und kniete sich dann vor den Rollstuhl. Die beringte Hand der Gräfin fuhr durch seinen Haarschopf und dann gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn.

Erst jetzt registrierte die sympathische ältere Dame, dass Mercedes im Raum war.

Ihre strahlend blauen Augen bohrten sich in die ihren, als sie einen kleinen Laut des Erstaunens von sich gab.

»Darf ich dir Mademoiselle Pancois vorstellen, Mutter?« Sagte der Comte sofort und stand wieder auf.

»Sie ist erst gestern angekommen und wird ab sofort deine neue Gesellschafterin sein.«

Mercedes trat zögernd näher und streckte der Gräfin ihre Hand zur Begrüßung hin.

»Guten Tag, Madame le Coer«, sagte sie und ergriff die erstaunlich kräftig zupackende Hand der Gräfin.

»Es freut mich sehr, sie kennenzulernen.«

Die ältere Dame sah von Mercedes zu ihrem Sohn hinüber und wieder zurück, bevor sie sprach.

Hätte Mercedes nicht über eine gute Beobachtungsgabe verfügt, wäre ihr sicherlich entgangen, dass der Comte fast unmerklich den Kopf schüttelte.

»Ich freue mich so sehr, Mademoiselle Pancois«, sagte die Gräfin schließlich und war dabei um einen neutralen Tonfall bemüht, was ihr allerdings nicht sehr gut gelang.

Ihr Gesicht spiegelte in diesem Moment Gefühle wider, die Mercedes nicht verstand.

Sie hatte sogar Tränen in den Augen stehen, die sie jetzt tapfer hinunterschluckte, bevor sie erneut sprach.

»Es wird wirklich allerhöchste Zeit, dass ich wieder nach Hause komme. So angenehm wie es hier auch ist, geht doch nichts über die eigenen vier Wände.«

Dabei zog ein kleines Lächeln über ihr sanftes Gesicht, welches Mercedes sofort erwiderte.

Die ältere Dame war ihr auf Anhieb sympathisch. Sie hatte so gar keine Allüren, wie man sie der höheren Gesellschaft gerne nachsagte.

»Ich hoffe, wir werden gut miteinander auskommen. Ich für meinen Teil werde mir jegliche erdenkliche Mühe geben«, beeilte sie sich hinzuzufügen.

Die Gräfin nickte glücklich.

»Dann würde ich vorschlagen, dass wir uns auf den Weg machen«, sagte der Comte schließlich und drückte auf einen Klingelknopf, der sich an der Wand neben dem Bett der alten Dame befand.

Nur wenige Minuten später kam Madame Lerue zurück und machte sich an dem großen Kleiderschrank zu schaffen.

So wie es aussah, war der Großteil der Kleidung bereits gepackt. Lediglich ein paar Toilettenartikel mussten noch aus dem Bad geholt und verstaut werden.

Der Comte griff schließlich nach den zwei prall gefüllten Koffern und ging damit zur Tür hinaus, während Madame Lerue die Griffe des Rollstuhls packte und die Gräfin auf den Flur schob.

Auch wenn Mercedes sich über den plötzlichen und sehr raschen Aufbruch etwas wunderte, sagte sie nichts dazu und folgte den beiden zu dem gläsernen Fahrstuhl.

 

Der Fluch des Erbes I  ﬗ  Der Fluch des Erbes I

 

Der Comte le Coer hatte bereits das Gepäck seiner Mutter im Kofferraum verstaut, als auch die drei Frauen bei dem Wagen eintrafen.

Geschickt setzte er die alte Gräfin auf den Vordersitz und klappte dann den Rollstuhl zusammen, um ihn ebenfalls unterzubringen.

»Bis bald, liebe Gräfin«, sagte Madame Lerue und nahm die Hände der alten Dame dabei in die ihren.

»Passen sie bitte sehr gut auf sich auf. Und halten sie ihren Übermut etwas im Zaum«, mahnte sie sanft.

»Ich habe meine Lektion gelernt, liebe Denise. Im Übrigen habe ich nun eine junge Dame, die mich bestimmt nicht mehr aus den Augen lässt«, schmunzelte sie.

»Sie können mich jederzeit erreichen, sollten sie Fragen haben, Mademoiselle Pancois«, sagte Madame Lerue dann zu Mercedes und reichte auch ihr zum Abschied die Hand.

»Das ist sehr freundlich von ihnen. Vielen Dank. Vielleicht komme ich darauf zurück«, erwiderte diese.

Dann stieg sie in den Fond des Wagens und schloss die Tür.

Der Comte hatte unterdessen bereits auf dem Fahrersitz Platz genommen und startete gerade den Motor.

Er hob seine Hand zum Abschied und dann machten sie sich auf den Rückweg.

 

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