Leseprobe ” Tatort Leben”
Leseprobe “Tatort Leben”
Kapitel 1
Leseprobe “Tatort Leben” Ein ganz fürchterlicher Schneesturm hatte die damalige Ulmer Heimklinik in seinen Fängen, als Uwe Braun dort am 19. Dezember 1968 um 04:35 Ortszeit das Licht der Welt erblickte.
Sein schweres Schicksal bestimmte ihn zum jüngeren Bruder des fünfzehn Monate älteren Sohnes der Familie.
Spätere Recherchen seinerseits ergaben, dass es sich um ein besonders heftiges Unwetter gehandelt hatte, das die Region fest im Griff hielt.
Im Nachhinein gesehen passend zu den Begebenheiten seiner Geburt und dem damit beginnenden langen und unvorstellbar grausamen Martyrium, das ihn erwartete.
Der Leser wird sich recht schnell fragen, wie ein unschuldiges Kind diese Grausamkeiten ertragen konnte, ohne seelischen Schaden zu nehmen.
Doch Uwe Braun war nicht wirklich allein, auch wenn es im ersten Moment so aussah.
Er hatte stets die geistigen Helfer an seiner Seite, die ihm ermöglichten, seinen Lebensplan zu erfüllen.
Aber kommen wir erst einmal zu seiner Geschichte.
Ein jeder mag sich im Anschluss daran seine eigenen Gedanken machen.
Erst zwanzig Jahre nach seiner Geburt suchte Uwe die damalige Hebamme auf, die ihn entbunden hatte.
Es war ihm ein Anliegen, persönliche Recherchen zu seiner Person anzustellen.
Eine ganz bestimmte Kindheitserinnerung, die er im Alter von viereinhalb Jahren hatte erdulden müssen, ließ ihn einfach nicht los und raubte ihm den Schlaf.
Von der Hebamme musste er daraufhin schmerzlich erfahren, dass seine ›Austrägerin‹, wie er sie nennt, ihn direkt nach der normalen Geburt auf den kalten Fliesenboden des Kreißsaals geworfen hatte.
Ärzte und Krankenschwestern waren schockiert,
aber auch gleichzeitig wie erstarrt, weil sie solch ein Gebaren noch niemals zuvor erlebt hatten.
Hätte nur einer von ihnen erkannt, was das für das kleine Baby zu bedeuten hatte und auch den Mut gefunden, etwas dagegen zu unternehmen, wäre das Leben des unschuldigen Kindes Uwe Braun sicherlich ganz anders verlaufen.
Doch so wurden die Weichen für sein grausames Schicksal bereits im Augenblick seiner Geburt gestellt.
Was das sträfliche Wegsehen und Ignorieren der verantwortlichen Menschen bedeuten kann, die die Verpflichtung hatten, etwas zu unternehmen, erzählt die unendlich traurige und sehr grausame Geschichte des Uwe Braun.
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Sobald das neugeborene, unschuldige Baby schließlich in seinem sogenannten ›Zuhause‹ ankam, was jedoch niemals ein wirkliches Zuhause werden sollte, lernte es alsbald eine Welt kennen, die an Unmenschlichkeit nicht mehr zu überbieten war.
Zeitzeugen wie die ehemalige Nachbarschaft und Uwes Großmutter mütterlicherseits berichteten ihm auf sein beharrliches Nachfragen hin, was sich in seinen ersten Lebensjahren zugetragen hatte.
Selbst seine Austrägerin ließ es sich später nicht nehmen, ihm mit diebischer Freude in den Augen sein grausames Schicksal zu schildern.
Von vorneherein stand Uwe Braun im Schatten seines älteren Bruders. Während seine Austrägerin für den geliebten Jungen alles tat, war Uwe nur eine zusätzliche Last für sie und wurde nicht weiter von ihr beachtet. Oft ließ sie ihn stundenlang allein in seinem Kinderbettchen liegen und reagierte auch nicht, wenn er Hunger bekam. (Zeitzeugen ehemalige Nachbarn in Nersingen-Leibi).
Von Windeln wechseln gar nicht erst zu sprechen. Eigentlich existierte er für sie überhaupt nicht und es grenzt wirklich an ein wahres Wunder, dass das Baby
diese Behandlung überlebte und dabei nicht verhungerte.
Uwes eigene Kindheitserinnerungen reichen bis zum Alter von zweieinhalb Jahren zurück.
Erstaunlich früh, zumal allgemein gesagt wird, dass die Erinnerungen bis zum sechsten Lebensjahr sehr bruchstückhaft wären. Da seine Kindheitserlebnisse jedoch so einschneidend und grausam waren, haben sie sich tief in ihm verwurzelt.
Uwe erinnert sich an folgende Begebenheit:
Die Austrägerin war mit ihren beiden Söhnen auf dem Weg zur Donau.
Sie befanden sich in der Nähe des Stadions, als das Unglaubliche geschah und sie ihren ›Anfall‹ bekam, wie Uwe es bezeichnet.
Ohne ersichtlichen Grund packte sie ihn und hielt das kleine Kind mit dem Kopf unter Wasser.
Nur dem zufällig vorbeikommenden Onkel, dem Bruder seiner Austrägerin, ist es zu verdanken, dass Uwe diesen Anschlag überlebte.
Der Onkel riss seine Schwester zurück und zog den Kopf seines Neffen aus dem Wasser. Er erzählte ihm später, dass er bereits blau angelaufen war und keine Luft mehr bekam. Verständlicherweise hat Uwe seit dieser Zeit panische Angst vor Wasser.
Um kein Aufsehen zu erregen und keinen Ärger zu bekommen, brachte man Uwe nicht ins Krankenhaus, was jeder vernünftige Mensch sofort getan hätte, sondern einfach wieder nach Hause.
Uwe erinnert sich genau daran, dass er mehrfach an jenem Tag noch Wasser spuckte. Seine Panik vor diesem Element war in dem darauffolgenden halben Jahr sogar so schlimm, dass seine Austrägerin ihn nur unter lautem Schreien und Protesten seinerseits in die Badewanne stecken konnte.
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Im Alter von dreieinhalb Jahren stand für Uwe eine Mandel OP an.
Auch dieses schreckliche Erlebnis sollte er niemals mehr vergessen können.
Er hatte in seinem jungen Alter natürlich keinerlei Ahnung davon, was eine Operation zu bedeuten hatte, geschweige denn, was man dort mit ihm tun würde. Weder seine Austrägerin noch sein Vater hatten es für nötig befunden, ihm alles zu erklären. Gemeinsam mit ihrem älteren Sohn brachte Frau Braun den Kleinen schließlich in die ›Alte Klinik am Michelsberg‹.
Dieses Krankenhaus verfügte jedoch noch nicht einmal über eine Kinderstation.
Sie begleiteten den Jungen lediglich bis auf sein Zimmer und verschwanden dann sofort wieder.
Uwe war jetzt mit seinen dreieinhalb Jahren sich selbst überlassen.
Zur damaligen Zeit gab es in den Kliniken noch die sogenannten Sterbezimmer, in denen man die alten Leute unterbrachte.
Da Uwe nicht wusste, was er tun sollte, lief er durch das große Krankenhaus und kam sich dabei ziemlich verloren vor. Natürlich war er altersgemäß neugierig und die große breite Tür des Sterbezimmers hatte es ihm sofort angetan.
Ohne lange darüber nachzudenken, öffnete er sie und betrat den dahinterliegenden Raum. Daraufhin drehte sich einer der dort untergebrachten alten Männer zu ihm um und sprach ihn freundlich an.
»Was bist denn du für ein lieber Bub?« Fragte er ihn und lächelte ihm dabei zu.
»Ich bin der Uwe«, erwiderte dieser etwas unsicher.
»Komm doch mal her«, sagte der Mann dann auffordernd zu ihm. Uwe hatte etwas Angst, da er den Fremden ja nicht kannte, ging aber nach kurzem Zögern trotzdem zu ihm hinüber.
Der freundliche Mann nahm Uwes kleine Hand in die seine und sagte zu ihm: »Du Uwe, hör mal. Wenn mit dir irgendetwas ist, dann kommst du bitte sofort zu mir.«
Was könnte den Mann dazu veranlasst haben, diese Worte zu dem kleinen Jungen zu sagen?
Uwe nickte nur und verließ dann schnell den Raum. Die Worte des alten Mannes hatte er jedoch sofort wieder vergessen.
Wenig später, zurück auf seinem Zimmer, kam eine Nonne, badete ihn und brachte ihn dann in den Operationssaal hinunter.
Der diensthabende Operateur, Doktor H. war von Anfang an mehr als unfreundlich zu dem kleinen verängstigten Jungen, um nicht zu sagen regelrecht böse, wie Uwe sich erinnert.
Ordnungsgemäß verabreichte man ihm die Maske und versetzte ihn damit in Narkose.
Doch dann geschah das Ungeheuerliche.
Uwe wachte während der Operation auf.
Er konnte alles um sich herum wahrnehmen, hörte, was die Ärzte und Schwestern miteinander sprachen, sah die Instrumente, die sie benutzten und auch was sie damit machten.
Aber das Schlimmste von allem war……er konnte alles spüren und hatte unerträgliche Schmerzen.
Später beschrieb er die eingesetzten Instrumente in allen Einzelheiten. Doch damit nicht genug.
Anstatt die Operation sofort zu unterbrechen, um Uwe erneut zu narkotisieren, machten sie einfach weiter, ohne Rücksicht auf den leidenden Jungen.
Wie sich später herausstellen sollte, war Doktor H. betrunken!
(Das erfuhr Uwe im Alter von 15 Jahren, auf Nachfrage von seinem Vater. Er hatte von ihm wissen wollen, warum er damals nichts unternommen hatte).
Diese Tatsache ließ den kleinen Uwe ein Martyrium durchleben, wie man es sich wohl kaum vorzustellen vermag.
In dieser für ihn endlos erscheinenden Zeit zerriss er sämtliche Lederbänder, mit denen er fixiert war.
Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit für einen gerade einmal dreieinhalbjährigen Jungen.
Uwe war kaum noch in der Lage zu atmen und hatte Todesangst. Doch niemand hatte Erbarmen mit ihm.
Ganz im Gegenteil. Die Nonne hielt ihn fest, damit die OP zum Abschluss gebracht werden konnte.
Als seine Qualen dann endlich ein Ende genommen hatten, schob man das kleine Kind einfach zurück in sein Zimmer. Nur wenige Minuten später bemerkte Uwe eine ungewöhnliche Wärme im Mundraum.
Das machte ihm schreckliche Angst, da er spürte, dass irgendetwas nicht stimmte.
Jetzt erinnerte er sich an die gütigen Worte des alten Mannes. Ohne lange zu überlegen, stieg er wieder aus dem Bett heraus und schaffte es mit letzter Kraft, das Sterbezimmer zu erreichen.
Der ältere Herr sah ihn erschrocken an und riss ihm sofort den Mund auf.
Was dann geschah, liegt im Dunkeln.
Sicher ist nur, dass Uwe, da er sich während der Operation zur Wehr gesetzt hatte, innere Blutungen erlitt. Er stand kurz vor dem Exitus.
Der alte Mann, der Uwe das Leben gerettet hatte, starb kurz darauf.
›Ein Leben für ein anderes‹
Uwe bekam leider niemals die Möglichkeit, dieses schreckliche Erlebnis zu verarbeiten.
Seinen Eltern war sein Gemütszustand schlichtweg egal.
Kapitel 2
Uwe feierte seinen vierten Geburtstag. Normalerweise ein Tag, auf den sich jedes Kind ein ganzes Jahr lang freut.
Für Uwe jedoch sollte dies kein Freudentag werden.
Wie bereits an den vorherigen Geburtstagen bekam er auch an diesem Tag nur ein winziges Geschenk überreicht.
Sein älterer Bruder hingegen wurde mit Präsenten regelrecht überhäuft.
Vollkommen unverständlich für den kleinen Uwe, da dies doch eigentlich ›sein‹ Ehrentag war.
Könnte man noch die Vermutung anstellen, seine Eltern hätten sich einen schlechten Scherz erlaubt und würden die Geburtstage vertauschen, so hatte man sich gewaltig geirrt.
Feierte Uwes Bruder seinen Festtag, wusste er gar nicht, welches Geschenk er zuerst auspacken sollte.
So vielfältig war die Auswahl.
Zudem wurden die gesamte Verwandtschaft, die Nachbarschaft und unzählige Kinder von den Eltern dazu eingeladen. Natürlich bekam er auch die größte Torte, die es zu kaufen gab.
Sein Geburtstag war immer ein großes Spektakel. Dies sollte auch bis zu seinem 14. Lebensjahr so bleiben.
Uwe durfte an dem Ehrentag seines Bruders kräftig mit anpacken. Er musste Teller abräumen, die Gäste bedienen, sollte sich aber ansonsten im Hintergrund halten.
Auch an diesem Tag ging er leer aus und bekam kein Geschenk ausgehändigt.
Also handelte es sich keineswegs um einen Tausch.
Erst Jahre später, an Uwes zehntem Geburtstag, lud seine Austrägerin ihren Bruder, dessen Frau und die Großmutter zu diesem Anlass ein.
Uwe bekam das Knaurs Jugendlexikon geschenkt. Dies sollte jedoch eine einmalige Ausnahme bleiben.
Der Weihnachtsstress musste dafür herhalten, dass seine Eltern sich nie darum bemühten, eine richtige Geburtstagsfeier mit Gästen für ihren jüngsten Sohn auszurichten. Da hätte keiner Zeit und wollte lieber zu Hause bleiben, sagten sie zu ihm.
Ganz langsam dämmerte dem Jungen, dass hier ja wohl etwas nicht stimmen konnte.
Er ging mittlerweile in den Kindergarten und wurde natürlich von seinen Freunden und auch den Erzieherinnen danach gefragt, was er denn geschenkt bekommen hätte.
Es war unangenehm für den kleinen Uwe, hier Rede und Antwort stehen zu müssen.
Den Kindergärtnerinnen tat der Junge zwar leid, aber sie unternahmen nichts, um etwas mehr über die Familienverhältnisse zu erfahren.
Seine folgenden Geburtstage verbrachte Uwe leider überwiegend ganz allein.
Weder seine Austrägerin noch sein Vater waren tagsüber oder abends anwesend.
Da sein Geburtstag nun mal auf den 19. Dezember fallen würde, hätten sie keine Zeit, denn an diesem Tag wären immer die Weihnachtsfeiern, erklärten sie ihm kurzerhand.
Seine Austrägerin arbeitete als Hausmeisterin bei einer Wohnungsbaugesellschaft. Merkwürdigerweise fielen deren Weihnachtsfeiern wirklich immer auf den 19. Dezember. Ganz egal um welchen Wochentag es sich handelte, selbst wenn es ein Sonntag war. Fiel Uwes Geburtstag tatsächlich auf einen Sonntag, war es sogar besonders schlimm. An diesen Tagen war auch immer noch der 4. Advent und seine Eltern waren zusätzlich mit den Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt. Somit beachtete man Uwe erst recht nicht.
Uwes Vater, der hauptberuflich bei der Firma Kässbohrer beschäftigt war, hatte zwar recht wenig mit dem Arbeitgeber seiner Frau zu tun, begleitete sie
aber dennoch immer zu diesen vermeintlich stattfindenden Feierlichkeiten.
Uwe bekam daher an jedem seiner Ehrentage nur ein normales Mittagessen, wenn er Glück hatte.
Mehr keinesfalls. Seine Verwandtschaft gratulierte ihm noch nicht einmal.
Dass er keine Geschenke bekam, begründete man damit, dass ja bald Weihnachten wäre und daher kein Geld dafür da sei.
Das galt natürlich nicht für seinen Bruder.
Somit verbrachte Uwe tatsächlich so gut wie jeden dieser Tage allein zu Hause. Dies sollte sich auch noch bis zu seinem 49. Geburtstag fortsetzen.
Noch kurz anzumerken ist, dass Uwe in seinem bisherigen Leben nur an seiner eigenen, jedoch keiner fremden Hochzeit teilgenommen hat.
Weder im Verwandtenkreis noch im Arbeits- oder Vereinsleben wurde er jemals zu solch einer Festivität eingeladen.
Da er die Einsamkeit ja bereits von all seinen Geburtstagen kannte, störte ihn dies auch nicht mehr sonderlich.
Diese leidvollen Tatsachen waren eine der recht zahlreichen Voraussagen seiner Austrägerin, die sie ihm im Laufe seines Lebens offenbaren würde.
Doch dazu mehr an anderer Stelle.
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Uwe war viereinhalb Jahre alt, als etwas passierte, das der erwachsene Uwe noch viele lange Jahre nicht verarbeiten konnte.
Er erinnert sich an diesen Vorfall, als wäre es erst gestern gewesen. Zu tief sitzt noch immer der Schock, den er wohl ein Leben lang nicht vergessen wird.
Uwe befand sich gemeinsam mit seiner Austrägerin in der Küche und saß spielend auf dem Küchenboden.
Ein ganz normales Verhalten eines Kindes, das in der Nähe seiner Mutter sein will.
Diese hingegen fühlte sich wohl durch die Anwesenheit des Jungen ganz massiv gestört.
Sie fackelte nicht lange, griff nach der heißen Bratpfanne, die auf dem Herd stand, und drückte sie dem kleinen Uwe gegen das Kinn.
Die augenblicklich einsetzenden Schmerzen waren unerträglich. Doch kein Laut kam über seine Lippen. Da er am nächsten Tag ja wieder in den Kindergarten gehen sollte, zwang die Austrägerin ihn dazu, dort zu erzählen, er sei gegen die Pfanne gelaufen.
Sie drohte ihm mit harten Bestrafungen und sagte ihm, dass er nicht mehr dorthin gehen dürfte, wenn er etwas anderes behaupten würde.
Natürlich fügte Uwe sich. Was hätte er auch anderes tun sollen? Er konnte sich ja nicht wehren.
Wie sehr sie ihren Sohn verabscheut haben musste, zeigt auch die Tatsache, dass es von Uwe nicht ein einziges Baby- oder Kinderfoto gibt.
Während seine Eltern ihren älteren Sohn in allen Lebensstadien fotografiert hatten, sah es so aus, als würde Uwe gar nicht für sie existieren.
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Eines schönen Tages holte seine Austrägerin Uwe vom Kindergarten ab.
Ein außergewöhnliches Erlebnis, da der kleine Uwe bereits im Alter von nur dreieinhalb Jahren den Weg immer allein laufen musste.
Zu Hause angekommen erzählte sie ihm, dass sie jetzt gemeinsam zu dem Ort fahren würden, an dem er geboren worden sei.
Und wenn er den Leuten dort erzählen würde, dass es ihm gut ging und man liebevoll mit ihm umginge, dann bekäme er zur Belohnung auch Süßigkeiten.
Hier muss kurz erwähnt werden, dass Uwe bis zu diesem Zeitpunkt noch niemals in den Genuss von Leckereien gekommen war, die Kinder nun mal so sehr lieben. Es war immer nur sein Bruder, der solche Dinge in rauen Mengen genießen durfte.
Vom brüderlichen Teilen hielt dieser jedoch nichts.
Natürlich stimmte Uwe sofort freudig zu. Für die ersehnten Süßigkeiten würde er alles tun.
Da sich der Kindergarten, den er besuchte, direkt in der Nähe der damaligen Ulmer Heimklinik befand, wollte seine Austrägerin lieber auf Nummer sichergehen und dafür sorgen, dass man dort keinen Verdacht gegen sie schöpfen konnte.
Sie wusste doch nicht, was die Kindergärtnerinnen über den Unfall mit der Pfanne wirklich dachten.
Womöglich kannten sie sogar den ein oder anderen Angestellten der Klinik und hatten sich mit diesem bereits über den kleinen Uwe Braun unterhalten.
Die Mitarbeiter der Heimklinik, dessen Gebäude zum Teil bereits der Lebenshilfe gehörte, freuten sich sehr, als Uwe sie besuchte und sie fragten ihn sofort, ob es ihm gut ginge und ob alles in Ordnung wäre.
Uwe hatte natürlich nur die Süßigkeiten im Kopf und beantwortete alle Fragen mit Ja.
Hochzufrieden mit seinen Antworten ging die Austrägerin wieder mit ihm nach Hause.
Die Süßigkeiten bekam er natürlich nicht.
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Im Alter von fünf Jahren besuchte Uwe mit seinem Bruder die Großmutter mütterlicherseits.
Die Oma der beiden hatte im fortgeschrittenen Alter noch eine Nachzüglerin bekommen, die nur wenige Jahre älter war als Uwe.
Gemeinsam machte sich Uwes Tante mit ihm und seinem Bruder auf den Weg zur nahe gelegenen Donau, die Uwe ja noch in schrecklicher Erinnerung hatte.
Sie unternahm einen weiten Spaziergang mit ihren Neffen und ließ Uwe dann auf dem Rückweg einfach allein zurück.
Der kleine Uwe wusste nicht, wo er war, er kannte sich hier nicht aus und das hatte seine Tante wohl genauso beabsichtigt.
Ein altes Ehepaar griff Uwe schließlich dort auf und brachte den verunsicherten Jungen ins Polizeirevier ›Neuer Bau‹ in Ulm.
Die Polizisten jedoch machten sich über Uwe lustig und beschimpften ihn sogar als Ausreißer.
Damit war für sie die Sache erledigt.
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Uwe war für sein Alter schon recht frühreif. Was blieb ihm auch anderes übrig, in einer Familie, in der er geschlagen, für alles verantwortlich gemacht und die meiste Zeit allein gelassen wurde.
Fuhren seine Eltern in ein Shoppingcenter, nahmen sie immer nur seinen Bruder mit. Es kam nicht selten vor, dass Uwe mit seinen fünf Jahren bis zu zehn Stunden allein zu Hause verbringen musste.
In der übrigen Zeit wurde er genötigt, auf seinen älteren Bruder aufzupassen. Stellte dieser etwas an, ob zu Hause oder im Kindergarten, bestrafte man stets Uwe dafür.
Auch zog man ihn zur Verantwortung, wenn seine Eltern miteinander stritten.
Er war immer an allem schuld.
Uwe fragte sich des Öfteren, warum die Nachbarn nicht wenigstens ein wenig auf ihn aufpassten und wunderte sich darüber, dass ihnen die Zustände in seinem Elternhaus nicht merkwürdig vorkamen.
Schließlich bekamen sie ja viele Dinge mit.
Wie sollte er nur mit der ewigen Schuldzuweisung umgehen? Das fragte sich der Junge immer wieder und kam sich dabei vollkommen hilflos vor.
Hatten seine Eltern womöglich recht?
Schon in diesen frühen Jahren fing er an, sich selbst zu verletzen, da er einfach keinen anderen Ausweg mehr sah.
Seine Eltern bekamen dies zwar mit, unternahmen aber nichts dagegen. Sie hielten ihn einfach für nicht ganz normal im Kopf.
Oft versteckte Uwe sich unter der Bettdecke, damit ihm nur niemand mehr die Schuld zuweisen konnte und stellte sich schlafend.
Zu all diesem Leid war er auch noch den ständigen Provokationen seines Bruders ausgesetzt.
Dieser bewarf ihn permanent mit irgendwelchen Sachen, nur um ihm wehzutun. Er nahm ihm sogar die wenigen Dinge weg, die Uwe besaß.
Wie beispielsweise seinen Plastikball oder andere Kleinigkeiten, die er einmal von irgendjemandem geschenkt bekommen hatte.
Sehr gerne zerstörte Uwes Bruder auch seine eigenen Spielsachen. Machte Uwe dann seine Eltern darauf aufmerksam, wurde er ausgeschimpft und für die blinde Zerstörungswut des Älteren hart bestraft.
Irgendwann war Uwe sogar froh darüber, dass er nichts geschenkt bekam.
So konnte sein Bruder es auch nicht kaputt machen. Warum das alles so war, das sollte er erst sehr viel später erfahren.
Einen Tag vor seinem vierzigsten Geburtstag.
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Uwe war fünfeinhalb Jahre alt. Sein Bruder besuchte bereits die Grundschule.
Es war einer dieser Tage, an dem seine Austrägerin ihn wieder einmal vom Kindergarten abholte.
Die Familie wohnte in der Schülinstraße in Ulm. Ganz in der Nähe gab es ein Lebensmittelgeschäft.
Überraschenderweise sagte die Austrägerin zu ihm, dass er heute einen Wunsch freihätte.
Für Uwe fast nicht zu glauben, da das bisher noch nie der Fall gewesen war.
Er war regelrecht glückselig und augenblicklich fiel ihm die Karamalz Werbung ein, die er so gerne sah.
Also fragte er sie, ob er solch ein Dunkelbier haben dürfte. Die Austrägerin bejahte dies und kaufte selbst noch einen Beutel Milch ein, während der kleine Uwe überglücklich nach seinem Karamalz griff.
Besser wäre es, er würde die Flasche nicht selbst tragen, sagte sie noch im Geschäft zu ihm, damit auch alle es hören konnten. Doch Uwe war so stolz auf sein Dunkelbier, dass er es sehr gerne allein trug. Er würde auch ganz vorsichtig sein.
Schon recht bald darauf sollte er erfahren, was seine Austrägerin dieses Mal für ihn geplant hatte.
Das Haus in der Schülinstraße war bereits recht alt und hatte eine steile Tontreppe, über die man in den Keller gelangte. Die Austrägerin sagte zu ihrem Sohn, dass sie noch kurz ins Untergeschoss hinuntermüsste und er mitkommen sollte. Nichtsahnend willigte der Junge sofort ein.
Er fügte sich immer den Befehlen seiner Mutter. Heute weiß Uwe nicht mehr genau, wie es passiert ist. Auf jeden Fall stolperte er, fiel hin und die Glasflasche bohrte sich dabei durch seine linke Hand.
Das Blut spritzte in alle Richtungen und Uwe starrte schockiert auf seine schwere Verletzung.
Er war sofort wie erstarrt und konnte nicht wirklich begreifen, was er da sah.
Die Mitarbeiter einer kleinen Textilreinigung, die sich direkt nebenan befand, hatten Uwes verzweifelte Schreie gehört und kamen sofort herübergelaufen.
Sie versorgten seine schlimme Wunde notdürftig und riefen dann sofort den Rettungswagen.
Auch seine Austrägerin verhielt sich auf einmal sehr fürsorglich, da sie ja keinen Verdacht erregen wollte. Doch der kleine Uwe wusste instinktiv, dass das nur gespielt war.
Er wurde mit seinen fast unerträglichen Schmerzen in die Uniklinik Safranberg gebracht.
Seine Austrägerin konnte sich gegen den Willen der Sanitäter nicht wehren, die darauf bestanden, dass sie mitfuhr. Auch wenn sie immer wieder beteuerte, dass ihr älterer Sohn doch gleich aus der Schule kommen würde. Das war viel wichtiger für sie.
Die Ärzte schlugen die Hände über den Köpfen zusammen, als sie sahen, was Uwe widerfahren war.
Er selbst stand unter Schock, da sofort wieder die Erinnerung an seine grausame und beinahe tödlich endende Mandel OP in ihm hochkam.
Als er das Desinfektionsmittel in die offene Wunde gesprüht bekam, auch diese Schmerzen waren kaum zu ertragen, kannte seine Austrägerin kein Mitleid.
Das müsste er jetzt aushalten, sagte sie zu dem kleinen, erst fünfjährigen Jungen.
Von Trost oder einer Umarmung keine Spur.
Unter örtlicher Betäubung entfernten die Ärzte die noch verbliebenen Glasscherben aus Uwes Hand.
Danach wurde er wieder nach Hause geschickt.
Sie baten ihn jedoch am nächsten Tag mit seiner Mutter zur Kontrolle wiederzukommen. Es musste dringend ein Operationstermin vereinbart werden, da sämtliche Sehnen in Uwes Hand zerstört waren.
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Am nächsten Morgen hörte Uwe im Radio, dass es eine schlimme Massenkarambolage zwischen Ulm und Laichingen gegeben hatte.
(Die Südwest-Presse Laichingen berichtete).
Es gab viele Schwerstverletzte.
Die Uniklinik Safranberg war die einzige große Klinik, die zugleich Unfallklinik war und auch eine chirurgische Abteilung hatte.
Somit war klar, wohin man die Unfallopfer bringen würde. Seine Austrägerin hingegen interessierte das recht wenig. Sie machte sich direkt am Morgen mit dem kleinen Uwe wieder auf den Weg in diese Klinik.
Der Junge war nicht im Entferntesten auf das Grauen vorbereitet, das ihn nun dort erwartete.
In dem Krankenhausgang, den er jetzt mit seiner Austrägerin betrat, stand ein Krankenbett mit einem der Schwerstverletzten, der aus unzähligen Wunden stark blutete und mehr tot als lebendig war.
Sein Blut spritze auf Uwe herab und der kleine Kerl war zutiefst erschüttert. Wusste nicht, was er tun sollte.
Seine Austrägerin hielt es jedoch nicht für nötig, ihren Sohn dort wegzuziehen und woanders mit ihm zu warten. Ganz im Gegenteil.
Sie weidete sich förmlich an seinem Entsetzen.
Im Minutentakt kamen neue Unfallopfer hinzu, die natürlich Vorrang hatten und sofort versorgt werden mussten. Einer schlimmer verletzt als der andere.
Die Bilder, die sich in diesen jungen Jahren in Uwes Kopf bohrten, wird er wohl sein Leben lang nicht mehr vergessen können.
Er erlitt einen schlimmen Schock.
Seine Austrägerin reagierte allerdings in keiner Form auf sein Entsetzen.
Uwe musste acht Stunden in diesem Horrorszenario aushalten, bevor er endlich an die Reihe kam.
In dem Gespräch mit den Ärzten teilte man ihm mit, dass seine Hand operiert werden müsste.
Eine andere Möglichkeit gab es nicht, wollte er sie wieder normal benutzen können.
Auch wenn Uwe nicht alles verstand, was die Ärzte sagten, löste das Wort Operation sofort Panik in ihm aus. Doch weder seine Eltern noch sonst jemand aus seiner Verwandtschaft hatte Mitleid mit dem armen Jungen, obwohl sie alle genau wussten, was er bei der Mandel OP hatte durchmachen müssen.
Und so geschah es zum zweiten Mal, dass man Uwe allein in der Klinik ließ.
Seine Austrägerin lieferte ihn einfach dort ab, wie sie es schon einmal getan hatte und überließ ihn dann wieder sich selbst.
Vielleicht sollte man besser das Wort ›entsorgen‹ verwenden, da es den Sachverhalt eher trifft.
Zum Glück verfügte diese Klinik jedoch über eine Kinderstation.
Die fürchterlichen Ängste, die Uwe durchstehen musste, bis es dann endlich so weit war, lähmen ihn noch heute, sobald er ein Krankenhaus betritt.
Glücklicherweise wurde er diesmal während der Operation nicht wach. Dafür bekam er schnell ein ganz anderes Problem.
Dem niederländischen Handchirurgen unterlief ein grober Fehler. Er baute schlichtweg Mist, wie Uwe es selbst ausdrückt.
Uwe kann seit dieser OP seinen linken Zeigefinger nur noch sehr eingeschränkt bewegen!
Die Ärzte vereinbarten unterdessen noch etliche weitere Kliniktermine für ihn. Allerdings wurden viele davon nicht eingehalten, da seine Austrägerin schlichtweg keine Notwendigkeit darin sah.
Weder bekam der kleine Junge eine Therapie noch Krankengymnastik, wie es in solchen Fällen eigentlich üblich ist.
Und erneut war Uwe wieder auf sich allein gestellt. Er musste jetzt einen Weg finden, um mit seiner leichten Behinderung zurechtzukommen.
Und zugleich auch mit den schlimmen, über einen relativ langen Zeitraum anhaltenden Schmerzen.
erschütternd – unglaublich – unvorstellbar – und doch wahr!!
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